Portraitshooting an der Balkontür

Mitte 2021 kam SIGMA auf mich zu und fragte, ob ich eine Objektivneuheit testen würde. Einzelheiten konnten aber noch nicht genannt werden. Da ich grundsätzlich offen für Tests bin, stimmte ich zu, mit der Bitte um mehr Informationen zu dem „geheimnisvollen“ Objektiv. Diese wurden mir dann im September zur Verfügung gestellt.

Also ein neues 90mm Objektiv mit einer Blendenöffnung von 2,8.

Mehr Info hatte ich nicht. Mmmhh.. SIGMA hat bereits ein 85mm F1,4 und ich bin ehrlich, ich war etwas überrascht, warum jetzt dieses Objektiv angeboten wird. Nun wurde hin und her geschrieben, ich wollte mehr Details erfahren. Die bekam ich dann und entschied, das Objektiv im neuen Jahr zu testen. Meine Devise ist ja: man kann mit jedem Objektiv gute Fotos machen.

Ende Januar kam dann die Neuheit: das 90mm F2,8 DG DN | Contemporary. Zu meiner großen Überraschung fällt die Verpackung sehr klein aus. Kein Wunder, denn das Objektiv ist echt ein Zwerg. Gerade mal 62mm hoch und 295g leicht. Geliefert wird es mit einer Gegenlichtblende, einem Frontdeckel und, für mich eine großartige Idee, mit einem magnetischen Objektivdeckel. Was noch sehr positiv auffällt, ist die sehr hochwertige Haptik. Die Gegenlichtblende passt sehr gut auf das Objektiv (ich kenne sehr viel schlechtere „Passungen“ für sehr viel mehr Geld) und alle beweglichen Elemente lassen sich sehr gut bedienen. Der Fokusring erlaubt eine feine Fokussierung. Der Blendenring hat eine sehr gute Arretierung. Insgesamt wirklich sehr, sehr hochwertig verarbeitet. Man fasst das Ding einfach gerne an. Aber das sind nur die äußerlichen Eindrücke. Wichtiger ist die Performance beim Fotografieren.

Für mich ist wichtig,

  • wie der Fokus arbeitet?
  • wie genau findet er das Auge, wie zuverlässig und wie schnell ist er?
  • Wie schaut die Schärfe aus und wie ist das Bokeh, der Schärfenverlauf bei Offenblende F2,8, wenn ich bisher F1,4 gewohnt bin? Wie schaut es mit Close Ups aus?

Die Naheinstellgrenze ist mit 50cm angegeben, was für Portraits sehr nah ist.
Ich war sehr gespannt.

Also kurze Zeit später habe ich das Objektiv erstmalig praktisch getestet. Für solche Tests nutze ich gerne meine typischen Szenarien. Balkontür, homogener, dunkler (grauer) Hintergrund, Offenblende, Portraits.

Ganz kurz zu meinem Lichtsetting:
Warum die Balkontür? Ich habe hier weiches, frontales Licht. Kaum Schattierungen an markanten Stellen (Augen, Nase, Kinn) und ich kann mich zu 100% auf mein Model und die Möglichkeiten konzentrieren, da es keinen Schatten gibt, der eventuell negativen Einfluss auf die Bildwirkung haben könnte. Wenn ich Schatten haben möchte, wechsle ich nach innen und nutze ebenfalls die Balkontür, diesmal aber seitlich und positioniere das Modell entsprechend dem Lichteinfall. Dann mit einem Falthintergrund, um flexibel zu sein. Die anderen Hintergründe sind in bestimmten Abständen zur Tür an meiner Wohnzimmerdecke verbaut.

Simone war an dem Nachmittag mein Gast. Wir haben uns das erste Mal getroffen und ich war direkt begeistert. Vom Wesen, ihrer Ausstrahlung und den sich ergebenden Möglichkeiten. Ein sehr sympathisches Lächeln und ein bezauberndes Gesicht.
Nach einem Kaffee und einem langen Gespräch, wo wir uns etwas näher kennengelernt haben, merkte ich wie ich ungeduldig wurde, denn ich wollte das vorhandene Licht nutzen und endlich das „kleine“ Objektiv testen. Es war bewölkt aber ausreichend hell. Die Lichtempfindlichkeit an der Kamera etwas empfindlicher eingestellt (ISO 200-320) und das 90er auf die Kamera (Sony Alpha 7M3) adaptiert.
Das ungewohnt geringe Gewicht war sehr angenehm (ich shoote sonst mit dem SIGMA 85mm F1,4 DG DN | Art, was fast 320g schwerer und 35mm länger ist). Alles so weit eingestellt und die ersten Testfotos gemacht, um die Belichtung zu prüfen. Hier habe ich sehr schnell gemerkt, dass Kamera und Linse perfekt harmonieren. Der Fokus hat von Beginn an extrem an Simones Auge „geklebt“, was mir Sicherheit gab.
Ich habe mich mit Simone unterhalten und sie beim Gespräch beobachtet. Wie fast jedes Modell bewegt sie sich, schaut immer mal wieder in die Spiegelung der Balkontür, um sich selbst zu überprüfen. Momente, die ich brauche, die ich genieße, die ich aber auch forciere. Natürliche Momente, natürliche Bewegungen, echte Emotionen. Immer wieder rutscht ein „Bleib so“ raus, ich korrigiere nur leicht und mache das Bild. Situationen, die teilweise Bruchteile von Sekunden dauern. Und ich möchte genau diesen Moment festhalten, denn eine zehntel Sekunde später ist es nicht mehr „das Bild“.
Hier zeigt sich Zuverlässigkeit und die Genauigkeit des Fokus. Und das 90mm war absolut im Element. Ich mag es gar nicht schreiben, aber gefühlt der beste Fokus, den ich je an der Kamera hatte. Noch präziser, schneller…und das aus solch einem Zwerg.

Kaum zu glauben. Die ersten Bilder gemacht und natürlich möchte ich die Naheinstellgrenze testen. Also Close Ups gemacht. Der Fokus kommt hier häufig an seine Grenzen, da ich sehr knapp schneide und das Auge meist im Randbereich des Bildes ist. Aber auch hier zeigt das 90mm DG DN kaum Schwächen, sondern fokussiert sehr genau auf das Auge. (Auch hier gestatte ich Ausreißer, denn ich schneide wirklich extrem). Die Freistellung, gerade im Nahbereich ist wirklich sehr gut. Bei Headshots ist die Schärfentiefe immer noch in einem ausreichenden Bereich. Eine Freistellung ist auch hier gegeben, was für Beautyfotografen ein Plus sein wird. Hier wird häufig ein Makro verwendet und das 90er ist da eine echte, hochwertige Alternative.

Und jetzt wollte ich experimentieren. Ich versuche immer mal wieder etwas Neues und Bewegungsenergie in Fotos ist gerade ein Trend, den ich mag. Also hier die Verschlusszeit auf 1/5sec, ISO auf 50 und soweit abgeblendet (F4,5) um die Bewegung von Simone im Bild festzuhalten. Dazu habe ich einen schwarzen Falthintergrund aufgebaut. Wir sind ins Wohnzimmer und haben das Licht seitlich genutzt, um etwas mehr Tiefe ins Bild zu bekommen. Simone hat sich dazu immer mit leichten Bewegungen positioniert, sodass die Bilder die gewollte Dynamik durch die Bewegungsunschärfe haben. Auch hier zeigt die Linse keine Schwächen. Natürlich ist es beim Fokussieren etwas schwieriger. Zudem war das Licht sehr knapp und die Kontraste waren entsprechend. Dennoch eine zuverlässige Performance des „Zwergs“.

Da ich die Linse noch etwas testen durfte, kam sie noch bei Sofie in Frankfurt und TJ bei mir daheim zum Einsatz. Sofie wurde im Noirstudio bei regnerischem Wetter und später auf einem Parkdeck fotografiert. Bei den Close Ups brilliert das 90mm Objektiv erneut. Ich schließe Shootings gerne immer ab, indem ich dem Model und mir ein weißes, leicht transparentes Tuch überwerfe, um einen Tunneleffekt zu bekommen. So gibt es ein tolles Spiel mit der Unschärfe, die man kaum beeinflussen kann, denn der Wind spielt eine eigene Rolle. Zudem hat es den charmanten Nebeneffekt, dass das Model perfekt ausgeleuchtet und die Augen extremst strahlen. Ich weiß, dass gerade hier der Fokus sehr schnell an seine Grenzen stößt. Sehr viel weiß und die ständigen Bewegungen des Tuchs sorgen für viel Bewegung in der Linse 😃.
Aber auch hier besticht das 90mm Objektiv durch seine Genauigkeit. Natürlich mit den Ausreißern, die aber unvermeidbar sind.

Abschließend war TJ bei mir und auch hier kam das 90mm Objektiv zum Einsatz. Diesmal aber nur bei einem Close Up (in der Balkontür), um ihr markantes Gesicht bestmöglich in Szene zu setzen. Hier wird noch einmal der gute Schärfenverlauf deutlich.

Fazit: Wie schafft man (SIGMA) es bitte, so ein kleines Objektiv mit so einer unbeschreiblichen Performance zu konstruieren. Ich bin absolut beeindruckt von der Leichtigkeit, der Größe und vom Fokus. Ich wiederhole mich. Für mich fast der Beste, den ich je an der Sony hatte. Ich werde mein 85er DG DN nicht einmotten und zum 90er wechseln, aber es ist ein großartiger, kompakter und günstigerer Kaufentscheid für Fotografen, die ein Objektiv in dem Brennweitenbereich suchen.

90mm F2,8 DG DN | Contemporary – 1/400 – F2,8 – ISO: 400

Erwähnte Produkte:

 
Stefan Beutler
Peoplefotograf

Fotograf seit 2004 und der Schwerpunkt ist die Menschenfotografie. Für mich zählt der Moment. Jeder hat etwas zu erzählen. Jeder hat seine Geschichte und ich möchte Fotos machen, worin sich der Mensch wiederfindet. Meist bei verfügbarem Tageslicht, immer Offenblendig. Sehr reduziert, sehr natürlich gehalten.

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